Dienstag, 25. September 2018


Aus dem Effeff

Satire auf das Literaturgeschäft
Aufprall, Scheppern, Blech. Der Glassplitterregen hinter ihm verkündet, dass er vor dem Abbiegen seinen linken Arm hätte ausstrecken sollen. Sorry, aber ich habe zu viel Schiss, den Lenker loszulassen. Hinter seinem Rücken nimmt die Lautstärke des Gezeters allmählich ab. Heute nimmt er die Elisabethstraße, schlägt einen Haken am Schwanenspiegel vorbei, überquert beinahe vorschriftsmäßig die Ampel an der Graf-Adolf-Straße und radelt das letzte Stück bis zum Verlag die Kasernenstraße hinauf. Er braucht das, um den Kopf für den Tag frei zu bekommen. Sommer wie Winter, ob es stürmt oder schneit. Nachdem er das Alurad mit einem dicken U-förmigen Sicherheitsschloss an die Laterne gekettet hat, verschmäht er den Fahrstuhl und joggt die fünf Treppen hoch ins Büro.
"Aurora!"
Warum nicht gleich Aphrodite oder Lotusblume? Diese erbärmlichen Schreiberlinge, diese schauerromantischen Knallköpfe nehmen eine gemischte Tüte Regenbogenpresse, Märchenbücher, Seifenopern und die große Weltgeschichte zur Hilfe um ihre gezuckerten und schmierigen Welten zu erschaffen. Ohne Unebenheiten oder Überraschungen - alles, nur keinen Roman schreiben, alles, nur nicht über das Leben und das Chaos sprechen, das sie umgibt! Narren. Auf die Tränendrüsedrücker. Seelenlose Possenreißer.

"Aurora schmiegte ihre schweren Brüste an die Wangen des Geliebten."
Die Wirklichkeit macht ihnen Angst. Die Worte terrorisieren sie. Mit vollem Recht. Sollen sie doch schlafen gehen. Sollen sie doch ihren Kräutertee schlürfen und brav  arte  glotzen! Nichts treibt sie wirklich zum Schreiben. Nur der einzige und erbärmliche Wunsch, ihresgleichen zu gefallen.

Frank Förster ist wütend. Wie immer, wenn er ein saft- und kraftloses Manuskript öffnet. Dieser aufblitzende Affekt, Werk, Autor und sich selbst in der Luft zerreißen zu wollen. Völlig unvernünftig so was.
Er schließt die Augen, die Hände liegen flach ausgestreckt auf dem Deckblatt. Unter seinen Handflächen brodelt eine virtuelle Welt. Es liegt nur an ihm, sie existieren zu lassen, sie in die Wirklichkeit zu holen. Das Händeauflegen: Vorspiel zur Lektüre. Danach die Anspannung den Titel zu lesen. "Türkise Küsse." Ab in den Papierkorb. "Verzeiht uns unsere Kindheit." Papierkorb. "Treffen im Park." "Glanzvolle Erinnerungen." "Laura in all meinen Träumen." "Tupfenbluse und Karorock." Du lieber Himmel! "Nieder mit der Fantasie!" Na, das ist es doch vielleicht ... 'Thema: Ich.' Hm, schade! "Melanie, wo gehst du hin?" Es reicht. Ab ins Feuer.

Das Manuskript rutscht rechts den Schreibtisch hinunter, stößt auf seine Vorgänger und landet in einem großen Drahtkorb. Nur einige erhalten Aufschub im Fegefeuer eines Regals.

F.F. ist ein cholerischer Leser. Es ist stärker als er. Er kocht, wettert, tobt, explodiert. Kann es einfach nicht lassen. Wie oft hat Britta ihn im Nebenzimmer schimpfen, fluchen und mit der Faust auf den Tisch hauen hören: "Spinner! Mensch, so ein Idiot! Analphabet! Null! Pfuscher! Pfaffe! Witzbold! Federfuchser! Phrasendrescher! Klon!" 
Frank entscheidet alleine. Delegiert an niemanden seinen Eifer, Enttäuschung oder Glück zu verteilen - viel vom einen und wenig vom anderen, wie das üblich ist in dieser Welt. Er ist der einzige Kapitän am Steuerrad seines Verlages Effeff, den er vor zwei Jahrzehnten mit erst 24 Jahren gegründet hat. Zehn Bücher im Jahr. Keins mehr, keins weniger. Der blaue Einband mit den zwei gekreuzten weißen Federn ist mittlerweile als Effeff Siegel bei einem kleinen Kreis eingefleischter Liebhaber bekannt. So erscheint außer im Januar und August jeden Monat ein Werk in den Verkaufsregalen der Buchhandlungen. Nicht sonderlich beachtet übrigens von der Käuferschar. Effeff vegetiert mehr schlecht als recht dahin mit knauserigen Subventionen, verächtlichen oder unterhaltsamen Kritiken und kümmerlichen Verkaufszahlen. Nicht verwunderlich in diesem Land, wo jeder schreibt, aber keiner liest.

Aurora! Finito. Exitus. Er schließt das Manuskript mit einer energischen Geste, lässt es rechts über den Höllenrand rutschen und greift gleichzeitig mit der linken Hand nach dem nächsten.

"Prometheus am Bungee-Seil". Also echt! Das darf doch wohl nicht wahr sein! Die lassen aber auch nichts aus um sich lächerlich zu machen. Frank legt seine Hände auf den pistaziengrünen Einband. Eh ... irgend etwas vibriert unter seinem Handteller. Ein eigenartiges Grummeln, ein stummes Rufen ... Er atmet tief ein.
Ein Befehl! Wie oft hat er es schon zu vernehmen geglaubt, dieses unterdrückte Murmeln, das aus den Seiten hochsteigt? Dieses lüsterne Flüstern. Dieses vage Klagen. Er beugt sich vorsichtig und mit Bedacht über den rechteckigen Brunnen, um die ersten Anzeichen von Enttäuschung wahrnehmen zu können, die dort emporsteigen.
Steckt wirklich etwas dahinter? Etwas wirklich Gutes? Oder ist diese Stimme wieder nur das kontinuierliche Echo der Wetterfahne, die sich in jedem dieser Köpfe nach dem Wind der neusten Mode dreht? "Prometheus". Aus welcher Schublade, der Gute? Epikgeschwafel oder Lyrikgesülze? Oder gar das Werk eines dieser Essigpisser, die ihr lausiges Gekritzel für Minimalismus halten? Womöglich gar mit Unterstützung staatlicher Stipendien! Buchstabensüppchen Ausgabe Nouvelle Cuisine! Asketen garni! Déco Literatur! Petersiliensträußchenliteraten! Hobbyisten!
Die Literatur ist wie ein Hauptbahnhof. Man trifft dort alle Welt. Bäcker, Staatsanwälte, Studenten, Gärtner, Literaturkritiker, Verkäufer, Politiker, Ingenieure, Makler, Bankangestellte, Penner und sogar ein paar Schriftsteller. Alle mit einer großen Last auf dem Herzen, mit einem kostbaren Geheimnis, einer endgültigen Wahrheit - Apokalyptische Reiter auf dem Weg zum künftigen Leser.
Unverstanden. Das erstaunte, genierte Schweigen von Familie und Freunden. Die mitleidigen Blicke, als ob sie an einer unheilbaren Krankheit litten. Lasst eure Mutter in Ruhe, Kinder. Mama schreibt, danach geht es ihr besser. Nein, es ist nichts Schlimmes ... Die lieben Kollegen, die das Messer in der Wunde umdrehen. Immer noch keine Antwort? Doch? Oh, du Ärmster. HOFFMANN UND CAMPE auch nicht? Wenn du Journalist wärst, würden sie dir den roten Teppich ausrollen. Alles in allem sind es doch erst fünf. Es gibt auch noch andere Verleger. Warum versuchst du es nicht mal mit Zeichnen? Das ist auch was Feines. Malen beruhigt ... Und erst die Sticheleien! Was sagt denn unser Dichter dazu? Das Schulterklopfen - eh, kannst du nicht für meinen Chef eine Geschichte erfinden warum ich Montag nicht arbeiten war? Oh, etepetete der Herr Schriftsteller, ist Schreiben nicht dein Job? Apropos dein Job - da kenn ich mich aus ... Und trotzdem schreiben sie weiter. Trotzig, gegen die Welt, gegen sich selbst. Entweder spartanische Leichtkost - fettreduzierte, kalorienfrei gesüßte Dudarfst-Romane, oder sie treten im Gegenteil ihre schmerztriefenden Geschichten bis ins letzte Detail breit. Omas offene Geschwüre an den Beinen, der Magenkrebs des Nachbarn, der aidskranke Neffe. Da wird abgesondert, es zerläuft, wird rissig, blättert ab, zersetzt sich, verfault, löst sich auf. Aber bitte würdevoll. Dem Tod mit einem leichten Lächeln ins Auge blicken, mit Humor krepieren. Und dann die Liebe, Thema Nr.1 in der Hitparade des Grolls. Sie hat mich betrogen, er hat mich verlassen, wie schön, die menschliche Natur! Aber ja! Sie werden sehen. Auf sechshundert Seiten. Möge mein Kummer Sie erleuchten ... Wirke ich an dieser Stelle leidend genug? Nicht zu verkrampft? Halten Sie durch. Ich erzähle Ihnen meine Scheidung. Ich warne Sie vor, es ist sehr, sehr hart. Den nächsten Band schreibe ich über Papa.
Frank wirft einen Blick nach links auf den Stapel der harrenden Manuskripte. Jeden Morgen sorgt Britta, die ihren Job im Sternverlag vor acht Jahren hingeschmissen hat, um als persönliche Assistentin das hektische Chaos von ihm fern zu halten, für Nachschub. Die treue und emsige Seele füllt die leeren Reihen unverdrossen wieder auf, druckt im Akkord Absageschreiben und vereinbart obligatorische Termine.
Ein tiefer Seufzer, dann kehrt er zu "Prometheus am Bungee-Seil" zurück, wägt mit der Hand ab, saugt den Duft ein und beginnt zu lesen. Die Geschichte von Stefan und Nadia. Sieh an, kein Krebs, kein Magengeschwür, kein Ehekrieg. Eine Liebe ohne Wolken oder zumindest nur kleine, dekorative Wattebäuschchen. Das riecht schwer nach irdischem Zuckerwatteparadies. Trotzdem - hier und da ein verstohlener Lichtblick, eine leichte innere Unruhe, ein dumpfes Grummeln. Unleugbar. Er kehrt zum Anfang zurück, schnüffelt, stöbert, geht mit sich zu Rate ...

Britta? Er hat die Stimme kaum erhoben. Wie ein Füchschen auf der Lauer taucht der rote Schopf sofort auf. Es steht kein Name auf dem Manuskript. Wo kommt es her? Jemand hat es in den Briefkasten gestopft. Ich habe den Absender vom Umschlag abgeschrieben und im System gespeichert. Das spricht nicht gerade für ihn, was?
Noch Termine heute Nachmittag? Vier wie immer. Britta zuckt mit den Schultern, dreht sich auf dem Absatz um und stöckelt hinaus.
Also so was! Da geben Leute ihre Manuskripte ab wie ein Kind an der Babyklappe einer Klinik oder eines Klosters. Andere gebären ihre Werke anonym als XY. Warum so eine Geheimniskrämerei? Um vom Großonkel zu erzählen, der Bahnhofsvorsteher in Grevenbroich-Kapellen war? Von ihrer unglücklichen Kindheit? Oder, noch schlimmer, von ihrer glücklichen? Und all das vertrauen sie dem weißen Blatt Papier oder dem Bildschirm heimlich nachts an. Bis zu dem Tag, da sie den Entschluss fassen, es der großen weiten Welt vorzustellen ... Um es, bitte eiligst, in größtmöglicher Auflage unter die Leute zu bringen. Die Menschheit wartet bereits seit Ewigkeiten darauf!
Manuskripte wimmeln überall. Man sieht sie nicht, aber sie umkreisen uns, belagern uns heimlich, bewegen sich in unterschiedlicher Tarnung fort, im Inneren von Gucci-Handtaschen, Rucksäcken, Aktenkoffern, Postsäcken, Intercity-Waggons, ParcelService-Lieferwagen. Sie gelangen in die geheimsten Briefkästen, in Büros, Küchen, Schlafzimmer auf der Fährtensuche nach dem professionellen Leserauge.
Ihre Verfasser sind perplex über eine Zurückweisung. Ich habe es meiner ganzen Umgebung gezeigt. Überall nur positive Reaktionen! Ich kann nicht glauben, dass Sie es nicht wollen! Im Falle einer Veröffentlichung meckern sie über mangelnden Enthusiasmus und schleppende Kritiken. Verräter! Faulenzer! Mafiosi! Und die Buchhändler? Was machen die Buchhändler? Sie hocken an ihrer Kasse, das machen sie! Übrigens habe ich mein Buch nicht in der Bücherstube am Markt gefunden. Sie treten denen doch wohl unverzüglichst auf die Füße?

Was ist heute nur los? Dieses Manuskript ... Frank geht in die Defensive. Er muss den Verfasser von "Prometheus" herbestellen. Ihm klar machen, dass es im großen Haus der Literatur keinen Platz für ihn gibt, nicht mal das kleinste Kämmerchen. Er wird ihn herbestellen, wie all die anderen, deren Texte zumindest ein Kribbeln hinterlassen, einen winzigen Hauch. Er wird es ihm offen und brutal ins Gesicht schleudern. Hören Sie auf um Himmels Willen! Warum wollen Sie sich selbst weh tun? Sie riskieren, sich die Finger zu verbrennen. Warum schreiben, wenn man nicht das Messer an der Kehle hat? Bevor das Manuskript ihn umstimmen kann, klappt Frank es entschlossen zu, packt seine Siebensachen und macht sich auf den Heimweg.

Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel. Ein Wort von Rita. Vielmehr zwei Worte. "Ich gehe".

Frank öffnet den Kühlschrank. Gähnende Leere. Bis auf die Flasche Champagner Moët&Chandon Cuvée Dom Pérignon, 1993. Eine Legende, ein Mythos! Zu trinken bis 2005. Nein, genau jetzt! Sich fühlen wie James Bond, wenn er mit seinem unzerstörbaren Begleiter Dom Pérignon durch seine alten Filme rast.
Nichts Besonderes in der Post. Rechnungen, Kontoauszüge - tolles Online-Banking! Wieso schicken diese Deppen die immer noch nach Hause? - und die Tageszeitung. Er füllt ein Glas, schnappt die Zeitung und haut sich auf das Sofa. Rot-Grün im Umfragetief. Am Montag startet der Sommerschlussverkauf. Heimliche IQ-Tests bei Pisa-Studie. Jugend feiert in Toronto den Papst mit Gesängen. Wow - die Welt ist schön! "Ich gehe". Natürlich gehst du. Ist ja nichts Neues.

Rita hat zwei entscheidende Fehler, ohne die anderen mitzuzählen. Der erste, dass er sie liebt. Der zweite, dass sie immer wieder abhaut. Frank gießt Champagner nach und steckt die Nase erneut in die Zeitung. Der Serientäter, der in Düsseldorf und Umgebung in letzter Zeit mehrfach Sparkassen ausgeraubt hat, musste diesmal unverrichteter Dinge abziehen. Der Kassierer glaubte an einen Scherz und fing schallend an zu lachen. Angesichts der ungläubigen Miene des Räubers klopften sich die anderen Angestellten brüllend vor Lachen auf die Schenkel. Entgeistert gab der Verdatterte Fersengeld, nicht ohne zuvor mit der Nase gegen die Glastür zu prallen. Die Polizei hofft durch die Blutspur auf den Täter zu kommen. Erzähl so was mal in einem Roman!

Sie ist weg, sie ist weg. Verdammt, sie ist einfach weg! Er wird sich nie daran gewöhnen. Ich gehe! Er sucht etwas zum Kaputtschlagen, entscheidet sich für das angemalte Gipskamel, das Rita aus Tunesien mitgebracht hat und schleudert es mit aller Kraft gegen die Marmorverkleidung des Kamins. Mist, es war nicht aus Gips! Eher aus Bronze oder so was in der Art. Das Kamel ist ok, der Marmor ist gesprungen. Aber wo geht sie hin, verdammt, wo geht sie hin? Und mit wem?

Nur nicht hier bleiben.
Seine Schritte führen ihn geradewegs ins Fässchen gleich um die Ecke. Seine Stammkneipe ist nahezu leer, bis auf den Inhaber. Schumi nicht nur Weltmeister, sondern hat auch am neuen Hockenheimring gewonnen, verkündet Roberto. Frank hockt sich an den Tresen. Gibst du mir was zu essen? Oh, eine Laus auf der Leber heute? Ein großes Altbier steht vor Frank und eine von Robertos göttlichen Frikadellen nebst labbrigem Toast.

Was soll ich tun, Roberto?
Roberto, ehemaliger Türsteher, hat eine simple Auffassung von zwischenmenschlichen Beziehungen: Knall ihr eine, und bind sie an die Heizung. Sein Lieblingsscherz: Was sagt man einer Frau, die zwei blaue Augen hat? Nichts, denn man hat schon zweimal versucht, ihr was zu erklären.

Roberto macht sich keine Illusionen. Er weiß, dass seine Ratschläge nicht fruchten werden.

Nein Frank, du hättest "Prometheus am Bungee-Seil" nicht schreiben können. Du hast diese reine und milde Liebe nicht kennen gelernt in der Stefan und Nadia schweben. Nadia! Sanfte Rundungen, gedämpftes Licht, Nadia - welch ein Klang! Rita ist offensichtlich anders gestrickt. Nadia bleibt. Sie nimmt die Posen ein, die ihr Mann mit pastellenen Worten beschreibt. Nadia haut nicht alle paar Tage einfach ab. Sie hat ihrem Stefan keine Vereinbarung abgerungen mit Tenor: jederzeit frei zu bleiben, frei zu gehen. Keine Rechenschaft, keine Forderungen ...
Keine Rechenschaft, Roberto, verstehst du das? Ich sehe keine andere Lösung als die Heizung, antwortet Roberto und stellt ein dampfendes Omelette und einen grünen Salat vor seine Nase. Aber Roberto versteht ja auch nichts von Frauen. Scheidung nach drei Wochen Ehe. Wegen einer Heizung, um genau zu sein.
Zwei Tage später, Viertel vor vier. Stefan Echt steht vor der dunklen großen Eingangstür. Niemand antwortet auf sein zaghaftes Klingeln. Tief einatmen, dann startet er einen zweiten Versuch. Kaum energischer, aber zumindest erfolgreich. Im hellen Vorraum klacken seine Schritte auf dem Laminat. Hinter der Glastüre links ein undeutliches Murmeln. Plötzlich steht Britta vor ihm. Sie mustert ihn schnippisch von oben bis unten. Stefan bleibt steif und linkisch wie ein Kaninchen vor einem Frettchen. Britta verschwindet wortlos. Stefan nestelt an seinem Hemdkragen, als Frank Förster mit Schwung die Glastür öffnet, gefolgt von einer aufgelösten Gestalt. Eine junge Frau mit blonden Locken drückt niedergeschlagen ein mit Gummis zusammengehaltenes Bündel Blätter gegen die Brust. F.F. geleitet sie am Neuankömmling vorbei zur Tür. Einige Sekunden später drückt der Verleger Stefans rechte Hand, murmelt einen Gruß und nimmt ihn in den Schlepptau Richtung Büro.
Der Raum ist eng und kahl. Der Besucher setzt sich auf einen der beiden Stühle in der Ecke. Als Frank den Raum einrichtete hat er nach noch ungemütlicheren gesucht, aber nicht gefunden. Die Prätendenten sollen wissen, dass Effeff kein Verlagshaus mit Plüschsofa und niedlichen Schickeria-Annehmlichkeiten ist. Da F.F. schweigt, schluckt Stefan Echt den Kloß in seinem Hals hinunter, räuspert sich und überlegt, wie er beginnen soll. Auf dem Glastisch zwischen ihnen liegt das Manuskript mit dem grünen Einband. Der Stapel Blätter, von dem sein Leben abhängt.

Sagen Sie nichts, befiehlt F.F. mit überraschend sanfter Stimme. Ich weiß es. Stefan reißt seine verschwommen Augen weit auf.
Die Leute; die zu mir kommen, sind oft nur von einer einzigen Idee besessen, fährt Frank fort: Veröffentlicht zu werden. Kann ich bald das Wort Schriftsteller auf meine Visitenkarte drucken lassen? Wann komme ich ins Radio, wann in eine Nachfolgesendung des Literarischen Quartetts? Erkennen Sie sich wieder, Herr Echt?
Stefan bleibt stumm.
Sehen Sie nicht bereits Ihr Portrait im Feuilleton der FAZ, der Zeit oder Ihr Werk auf der oberen Skala der Spiegelliste oder zumindest als Sommerseichtbuchempfehlung in der Brigitte? Träumen Sie nicht auch davon? Glauben Sie nur nicht, dass ich Sie dafür verurteile. Solche Anwandlungen sind lediglich lächerlich und erbärmlich.
In Wahrheit hat Frank das nicht so gesagt. Nur einen Teil oder andere, weniger brutale Worte benutzt. Wer weiß, jedenfalls verziehen sich Stefans Lippen zu einem entschuldigenden Grinsen. Woher wissen Sie das so genau, Herr Förster? Wie haben Sie diesen unstillbaren Durst nach Veröffentlichung in mir entdeckt?

Ich habe sie gelesen. Das ist alles. Ich las "Prometheus am Bungee-Seil".

Ist es so schlecht?, fragt Stefan wie man einen Arzt bedrängt, die schreckliche Wahrheit schonungslos auf den Tisch zu legen.

Es ist nicht schlecht!, explodiert Frank. Es ist absurd! Während Sie schreiben, schauen Sie in einen Spiegel und finden sich schön! Das Buch trieft von satter Selbstbefriedigung. Nichts Lebendiges, keine Revolte, keine Einsatzbereitschaft!

Der Verleger braust auf, lässt sich forttragen. Seine Stimme überschlägt sich. Er ist schrecklich sauer, so wenig Meister seiner Gefühle zu sein. Fühlt, wie ungerecht und widerwärtig er reagiert. Das ist sicher alles nur Ritas Schuld, aber nichts wird ihn jetzt noch aufhalten.

Was ist Ihr Einsatz, Herr Echt? Was werfen Sie in die Waagschale? Glauben Sie, es reiche, den Leser zu unterhalten, ihn in eine grammatikalisch perfekte Melodie einzulullen? Bedeutet das für Sie Literatur? Dieser leichte Oberlehrerstil? Literatur, nein, Sie gehören nicht hinein! Haben Sie Kafkas Hungerkünstler begriffen? "Es wird immer etwas herauszuholen sein aus diesem Strohhaufen, der ich bin." Ein Haufen Stroh, Herr Echt. Kafka hielt sich für einen Haufen Stroh, nicht für einen Animateur von Medienscherzchen oder einen Plauderer von Partnerschaftsgeklüngel!

"Schreiben heißt, Gerichtstag halten über sein eigenes Ich." Ibsen. "Ich existiere nicht mehr, da ich kein Papier mehr besitze." Bulgakow. Würde Papiermangel bei Ihnen den gleichen Effekt auslösen? Sind Sie bereit zum Urteil des Jüngsten Gerichts? Sind Sie bereit, in die Fußstapfen von Bulgakow, Ibsen oder Beckett zu treten? Menschen, die niemals davon träumten, die Gunst ihrer Zeitgenossen zu gewinnen! Sind Sie dazu bereit, Herr Echt?

Der Autor antwortet nicht. Schüttelt unmerklich den Kopf, fragt sich, was falsch gelaufen ist, wann das Sandkorn ins Räderwerk seines Stückes geraten ist, welches Sandkorn und warum.

Stumm und regungslos betrachten sie sich. Der Verleger deutet auf das Manuskript. Ich habe es nicht weggeschmissen. Ich möchte, dass Sie das selber tun. Eines Tages, nachdem Sie es wieder und wieder gelesen haben. Sie werden schlussendlich begreifen, dass ich durch meine Weigerung, Sie zum Schriftsteller zu küren, Ihnen ein sorgenreiches Leben voller Selbstzweifel erspare, für das Sie nicht geschaffen sind.

Stefan Echt schreibt offensichtlich nur, um seiner Existenz als kleinem Angestellten einen schmückenden Rahmen zu verpassen. Da ist sich Frank sicher. Man braucht ihn doch nur anzuschauen. Noch eine Sprosse auf der sozialen Erfolgsleiter. Mein Haus, meine Kinder, mein Roman. Oh, ich schreibe in meiner Freizeit, erklärt er der Schwiegermutter während er den Sonntagsbraten anschneidet. Das ist wesentlich entspannender als Jogging. Du solltest es auch mal probieren. Ich wollte eine Geschichte über deine Tochter schreiben, sie damit aufheitern. Ein Verleger hat mich bereits gedrängt, sie zu veröffentlichen. Im Moment zögere ich noch mit der Zustimmung. Es hat dir gefallen? Jetzt werde ich noch rot. Wie wäre es mit diesem Stückchen? Ohne Fett. Hier.

Warum hat er diesen Typ herbestellt? Er hat sich bestimmt einen halben Tag frei nehmen müssen. Ein Absageschreiben hätte es auch getan. Du lässt nach, Frank, du lässt nach.

Der Verleger ist deprimiert. Spürt, dass die Zeit verstreicht und ihn verbraucht. Was hatte er sich erhofft? Natürlich das, worauf er jedes Mal hofft und fast immer umsonst. Einen Funken überspringen spüren. Ein Beben tief unter den Sätzen. Dann und wann glaubte er es beim Lesen des Prometheus zu empfinden. Nein! Nichts! Wohl nur ein Irrtum! Wie er da sitzt! Ein normaler Angestellter, ruhig, freundlich, nicht mal wütend. Höchstens ein wenig enttäuscht. Wann nimmt er endlich das verflixte Manuskript und verschwindet?

Nicht die geringste Zeichen eines zügigen Aufbruchs bei Stefan Echt. Er greift nicht nach dem Band, sondern steckt beide Hände tief in die Taschen seiner Jacke. Deutet mit dem Kinn auf das Manuskript. Sie können es behalten. Ich werde es nicht mehr brauchen.

Immer noch dieses seltsame Lächeln.
Dann zieht Stefan Echt eine großkalibrige Pistole aus seiner rechten Tasche. Hundert Pro ein Spielzeug. Prometheus löst sein Band und lässt seine Blätter auf den Boden fallen.
Keine Sorge, sie ist nicht geladen, scherzt der Autor.
"Man sollte Leute nur im Sommer beerdigen."
Rita antwortet nicht. Sie findet Robertos Humor völlig deplaziert. Ein eisiger Wind pfeift über die Gräberreihen des Düsseldorfer Südfriedhofes, als sie inmitten des Trauerzuges Franks Sarg folgen ...
Wie gut täte jetzt der Trost eines Sonnenstrahls zwischen grünen Blättern.
Der Vorsitzende des Schriftstellerverbandes ergreift das Wort: "Wir müssen uns an eine neue Form des Schweigens von Frank Förster gewöhnen. Er war einer der seltenen Menschen, die uns bedauern lassen, nur das zu sein, was wir sind. Er bedurfte nicht vieler Worte. Sein Schweigen hielt uns in Alarmbereitschaft. Verleger zu sein bedeutet in erster Linie, Nein sagen zu können. Und er verstand sich auf diese Hohe Kunst besser als jeder andere ..."

Montag, 13. August 2018

Nähe

Sag niemals ja zu meiner Nähe
Weil du nein zu einer anderen sagst
Lass ja nur ja sein
Und nein nur nein

Fülle niemals aus meiner Fülle
Die Leere deines Seins
Lass Fülle sich füllen
Und Leere sich leeren

Empfinde niemals das Band unserer Herzen
Als Kette oder Fessel deiner Freiheit
Atme die Freiheit in meiner Nähe

Und nimm dir die Freiheit, meine Nähe zu suchen
Und lass mir die Freiheit, mich nie freier zu fühlen
Als in deiner Nähe, wie nah sie auch sei

Mittwoch, 18. Juli 2018

Ich worte noch ein Weilchen



Auf der Goldwaage
Worte wägen
Worte hülsen
Wort gegeben
Wort gehalten?
Ich worte noch ein Weilchen